Fahrt nach Feuerland
Heiligabend 2001

Montag - Sonnenuntergang: 21:57 Uhr

Um 10:00 Uhr fuhren wir weiter, vom Nachtplatz nach der Stadt Perito Moreno. Dort füllten wir in einem Supermarkt die Getränkevorräte auf, anschließend gingen wir in ein Internet-Café. Wir hatten eine Wette abgeschlossen, bei der es darum ging, was jeder meinte, wieviel eMails Brigitte wohl an diebeiden geschickt hatte. Almut meinte fünf, Ines meinte zehn und ich meinte fünfzehn, das sei aber absolutes Minimum. Erst dachten sie, ich übertreibe mal wieder Maßlos, aber als Almut ihre Mailbox aufmachte waren da achtundzwanzig eMails von Brigitte. Die meisten, wie ich vermutete, zwei Zeilen lang, dann noch solche, wo sie nachfragte, warum wir uns nicht melden oder solche, bei denen sie meinte, sie würde nun doch bald die Botschaft verständigen. Was soll denn der Käse? Unsere eigenen Mütter würden sich nicht getrauen, uns so etwas zu schicken. Ich konnte mich noch genau an die eMail-Flut erinnern, als wir nach Bolivien fuhren. Da kann man nichts Vernünftiges drauf antworten.

S 46°56,651' / W 70°41,959' - km 713.363
Irgendwo in Patagonien abseits der Pisten.

Dafür waren die anderen eMails relativ spannend. eMails aus Brasilien und aus Deutschland, die Leute wollten wissen, was denn in Argentinien so abginge. Man las von Plünderern und Maraudeuren, von kaputten Finanzen, Bankschließungen, der Staat sei Bankrott, und von allem Möglichen und Unmöglichen. Leider waren die Leute, die mir das schrieben, besser informiert als ich selbst, denn wir haben davon nicht das Geringste gesehen oder gehört. Nichts. Hier lag alles friedlich und verschlafen, wie man sich's so vorstellt. Und wir waren auf dem Weg ans Ende der Welt, wieso sollte uns sowas berühren? Wir gingen in die nächste Bäckerei und ich suchte mir meine Alfajores aus. Darum ging die Wette nämlich.

Heute ist Heiligabend und wir wollten einen besonders hübschen Nachtplatz haben. Wir holperten auf der Piste in Richtung El Chaltén dahin. Die Piste war nicht mehr so gut, wie die vorigen, aber es ließ sich noch gut vorankommen. Bald standen wir an einem Abzweig. Rechts ging eine Stichstraße nach El Chaltén. Die mußten wir nehmen. Wir fuhren nun auf schlechtem Untergrund am Lago Viedma entlang. Man kam nur noch sehr langsam voran. Ich hatte am Heck den Baumschaden und wollte daher nicht zu schnell fahren, ich kannte das Ausmaß der Schäden nicht. Structural Damage. Wir wollten möglichst nahe an den See, aber das Gelände erlaubte es meist nicht, denn alles war dicht mit Büschen bewachsen.

Auf der Piste nach El Chaltén
Der aus grobem Schotter bestehende Pistenabschnitt nach El Caltén

Wir fuhren etwa 40 Kilometer, immer Ausschau nach einer Abfahrtmöglichkeit haltend. Wir fanden eine, aber die stellte sich als Zufahrt zu einem Gehöft heraus. Also weiter... Ich erblickte eine Art Piste, die links weg in Richtung See ging. Sie führte zu einigen aufgeschütteten Kieshäufen, die scheinbar planlos in der Landschaft verteilt lagen. Die Piste, die vor Jahren mit dem Caterpillar gezogen sein mochte, konnte nirgendwo hinführen, denn sie hatte keine Fahrspuren und es wuchsen allerlei Pflanzen auf ihr. Sie hatte nicht mal einen richtigen Abzweig. Sie begann vielleicht dreißig Meter neben der Straße und da mußte man erstmal hinkommen. Ich markierte zunächst nur den Punkt und fuhr erst mal weiter, in der Hoffnung etwas besseres zu finden, doch die Straße begann sich vom See zu entfernen. Also umdrehen und wieder zu dieser seltsamen Piste zurück, um sie genauer in Augenschein zu nehmen.

Piste nach El Chaltén
Der aus feinerem Schotter bestehende Pistenabschnitt nach El Caltén.

Sah nicht so übel aus, weiter vorne konnte man gut von der Straße hinunter, dann hin zur Piste, immer den groben Unebenheiten und den Steinen ausweichend. Die Piste war nur einige hundert Meter lang und verlor sich dann irgendwo im Nirgendwo. Ganz an den See kamen wir nicht, also stellten wir das Auto hinter einem dieser Kieshügel auf. Es war halb Neun. Es war kalt, die Landschaft lag wie ausgestorben vor uns, alles sah völlig urzeitlich aus. Der See seltsam türkis und spiegelglatt, im Hintergrund, am anderen Ufer die hohen Berge, ringsum alles tot, nicht ein einziges Geräusch. Nur der Sonnenschein zu so später Stunde wollte dazu nicht passen. So stellte ich mir früher Loch Ness vor und es hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich ein Ungeheuer aus dem Wasser gestiegen wäre. Diese Landschaft nötigte mir Respekt ab, sie hatte irgendwas Gruseliges. Gespenstischer Hintergrund für unsere weihnachtliche Feier. Zunächst brauchten wir einen Baum. Almut ging los, um einen zu organisieren, während Ines und ich zwischen Hügel und Auto das Zelt aufstellten. Der Wind begann, heftiger zu wehen, daher sollte das Zelt möglichst dicht an das Auto, aber so, daß sich die Türen noch öffnen ließen.
Nach einer Zeit kam Almut mit unserem "Weihnachtsbaum" zurück. Mit viel Phantasie erinnerte er sogar an eine Tanne wir schmückten ihn, so gut es eben ging, ein paar Steine mußten als Topf herhalten. Mit dem Sonnenlicht verschwand auch der letzte Hauch von Freundlichkeit aus der Landschaft, die uns umgab.

S 49°35,449' / W 72°16,714' - km 713.859
Unser Nachtplatz am Lago Viedma. Diese Helligkeit war auch etwas Seltsames. Wir waren hier etwa auf der Höhe von Augsburg, doch wir hatten schon weit nach Zehn Uhr abends und da hat es nicht so hell zu sein.

Hinter den Bergen zogen dichte Wolken auf, unglaublich langsam und sie verharrten dort, obwohl der Wind merklich stärker wurde. Es war alles irgendwie seltsam. Alleine wäre ich nicht geblieben. Das Weite zu suchen ist hier auch nicht leicht, aber diese Totenstille, die Kälte, der starre See, die Wolken, die hinter den Bergen in Lauerstellung lagen... Ich hatte immer den Eindruck, daß sie sich bewegten, wenn man nicht hinsah. Das war das erste mal, daß mir irgendwo die Landschaft nicht geheuer war. Ich hatte schon in der Wüste, in stockfinsteren Wäldern, in zweifelhaften Gegenden übernachtet, aber das hier war anders. Keine Musik hätte besser hierzu gepaßt als Rachmaninovs Toteninsel. Die hatte ich nicht dabei, stattdessen zog ich eine CD mit Aufnahmen aus der Jahrhundertwende heraus und legte sie ein. "O, Tannenbaum" war mit dabei. Auch, als es ganz dunkel war, war mir nicht wohler. Der Mensch wird nun mal nervös, wenn man ihn der Sicht beraubt.
Eine derbeiden hatte sogar an einen Glühwein gedacht. Zumindest an das Gewürz, das war schon mal die Hauptsache. Ich hatte damals in Chile einen Wein gekauft, den ein Kumpel in Brasilien haben wollte. Doch der Wein lag, von allen vergessen monatelang im Kofferraum, fuhr wieder mit nach Argentinien und nun war er an der Reihe. Es gab Glühwein am Lagerfeuer. Jetzt war mir wohler, das Gemüt beruhigt, auch wenn der Wind zunahm und das Thermometer schon wieder gefallen war. Bescherung gab es auch. Almut hatte daran gedacht, daß ich als leidenschaftlicher Spezitrinker seit Jahren auf dem Trocknen saß und eine Dose mitgebracht. Kurz nach Mitternacht kapitulierten Ines und ich vor Kälte und Sturm und zogen uns ins Zelt zurück. Sogar Almut schlief heute neben dem Zelt, statt auf den Sandblechen.


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